Eine zarte Stimme klingt durch den Wald, getragen von sanften Gitarrenklängen. Die Frau, der sie gehört, sitzt im Kreis mit rund zehn Teilnehmenden eines Kakao-Rituals – vorwiegend Frauen. Früher war Ostern für viele der Anlass, in die Kirche zu gehen. Heute suchen sie innere Einkehr bei Kakao im Wald.
Seit fünf Jahren leitet Martina Christina Egli solche Zeremonien – mit Klangschalen und Gesang. «Die Nachfrage steigt und steigt», sagt sie. Teilnehmende sind Biologinnen, Ingenieurinnen oder Manager. Was einst als esoterische Nische galt, ist nun Teil einer breiten Achtsamkeitskultur.
«Der Kakao ist ein lebendiger Geist, mit dem man sich verbindet», so Egli. Emotionen sind willkommen, Tränen keine Seltenheit. Begleitet wird das Ganze von «Medizinmusik» – Lieder aus indigenen Traditionen. Egli kennt das Ritual durch ihre Aufenthalte in Guatemala, Mexiko, Brasilien und der Dominikanischen Republik – wo sie mit 15 erstmals auf einer Kakaofarm war.
Vom Kirchgang zum Kakaobecher
Der Ablauf hat religiöse Züge: zuerst das Ausräuchern mit Copal, einem weihrauchähnlichen Baumharz. Dann das gemeinsame Singen, das rituelle Trinken, das Innehalten.
Viele der Anwesenden wurden religiös sozialisiert: Eine Teilnehmerin war bis zu ihrem 18. Lebensjahr Oberministrantin. Eine andere ist Muslima. Hier halten sich die beiden einen Becher Kakao ans Herz und hauchen hinein – eine Geste, mit der sie «den Geist des Kakaos» einladen, sich mit dem eigenen Geist zu verbinden.
Die Kakao-Zeremonie
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Seit Jahrtausenden ist roher Kakao ein fester Bestandteil in Ritualen indigener Stämme. In Mexiko zum Beispiel wird das Ritual heute noch als Teil des kulturellen Erbes praktiziert, um sich mit Naturgeistern zu verbinden. Der in Zeremonien verwendete Kakao ist nicht vergleichbar mit herkömmlichem Trinkkakao. In seiner ursprünglichen, kaum verarbeiteten Form enthält er bioaktive Substanzen, etwa das Theobromin – ein Verwandter des Koffeins, der sanft anregend und stimmungsaufhellend wirkt.
Bevor getrunken wird, geht der Becher durch die Runde und wird «mit Liebe aufgeladen». Das Trinken selbst, sagt Egli, sei wie ein erstes Date. Man soll es langsam angehen, sich rantasten. Der Geschmack: bitter, mit Zimt, Ingwer, Nelke und etwas Pfeffer.
Spiritualität – die neue Religion?
Während die Kirchenbänke zunehmend verwaisen, boomen spirituelle Rituale. Die neuste Statistik spricht eine klare Sprache: In der Schweiz bilden Konfessionslose mit 34 Prozent inzwischen die grösste Gruppe – noch vor den Katholiken. Besonders in den Städten und unter Akademikern kehrt man Kirchen den Rücken. Und sucht – etwas. Halt, Sinn, Verbindung. Aber bitte ohne Dogma.
Religionswissenschaftlerin Olivia Röllin ordnet ein: «Wenn Menschen von Spiritualität sprechen, meinen sie oft etwas, das nicht einengt wie eine Institution.» Sinnsuche und die ganz eigenen Bedürfnisse. Der Glaube ist also keineswegs verschwunden – er sucht sich nur neue Formen.
Lieber bedient man sich am spirituellen Buffet – und kombiniert, was passt. Viele mischen Traditionen, ohne sich festzulegen. «Man pickt sich heraus, was hilft», sagt Röllin. Klar wird: Individualismus macht auch vor der Religion nicht halt. Und dennoch: Rituale geben Halt. Struktur. Orientierung. «Regeln bedeuten nicht nur Einschränkung – sie können auch befreiend wirken», so Röllin.
Ein Paradox, das viele umarmen: Freiheit im Ritual und Verbindung ohne Dogma. Oder zumindest: ohne Kirche.